Jedes Mal, wenn ich sie besuchte, habe ich ihr eine Rose mitgebracht. Über drei Jahrzehnte hinweg. Rot, rosa oder gelb. Jedes Mal sagte sie beim Eintreten in ihre Wohnung: „Du brauchst doch nichts mitbringen!“ und freute sich über die Rose. Sie hatte bereits Unmengen an Kuchen und Torte beim Bäcker gekauft, kochte Tee für mich und platzierte mich auf ihrem Sofa im Wohnzimmer. Wir redeten. Und redeten. Einen kompletten Nachmittag lang. Über das Leben, über den Tod, über mich, über sie. Ich saß da, aß Kuchen und trank Tee. Hörte zu oder erzählte.

Manchmal wurde ich müde. Sie merkte es einen Moment früher als ich. „Du bist müde? Komm leg Dich hin, schlaf ein bisschen.“ Dann legte ich mich auf dem Sofa hin, sie brachte mir eine warme Decke und setzte sich wieder in ihren Sessel gegenüber von mir. Irgendwann schlief ich ein.

Als mitten in den Studienzeiten eine Welt für mich zusammenbrach und ich für einige Zeit den Boden unter meinen Füßen verlor, war sie da. Keine Ratschläge, keine Umarmung, kein ausgesprochener Trost. Sie kochte Tee für mich und platzierte mich auf ihrem Sofa im Wohnzimmer. Ich redete. Einen kompletten Nachmittag lang. Über mich. Ich saß da, aß Kuchen und trank Tee. Sie hörte zu und manchmal bezog sie Stellung. Sehr klar und direkt.

Als ich vor knapp zwanzig Jahren nach Wien zog, sagte sie sofort, sie würde mich dort nie besuchen kommen. Das wäre ihr zu weit, in ihrem Alter. In Ordnung. Ich wusste Bescheid. Ab da telefonierten wir regelmäßig. Wenn ich Lust hatte, rief ich sie an. Manchmal meldete sie sich: „KONTROLLE! Ich wollte mal hören, wie es Euch geht.“, tönte es laut und fröhlich von meinem Anrufbeantworter. Zweimal im Jahr fuhr ich nach Hamburg und besuchte sie. Für einen Nachmittag. Ich saß auf ihrem Sofa im Wohnzimmer. Wir redeten. Und redeten. Einen kompletten Nachmittag lang. Über das Leben, über den Tod, über mich, über sie. Ich saß da, aß Kuchen und trank Tee. Hörte zu oder erzählte.

Vor ein paar Jahren stürzte sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung. Dann in größeren Abständen immer wieder. In Wien oder im Ausland erreichten mich die Nachrichten. Ihre Nichten gaben mir zuverlässig Bescheid. Ich war jedes Mal sehr bestürzt. Manchmal konnte ich sie im Spital besuchen, manchmal war es mir nicht möglich zu kommen. Ich spürte den endgültigen Abschied nahen. Was für eine furchtbare Vorstellung: ein Leben ohne sie? Ohne die Gespräche? Ohne ihre Präsenz? Ohne uns? Ohne Sofa, ohne Kuchen, ohne Tee?

Sie rappelte sich nach jedem Sturz, nach jedem wochenlangen im Bett liegen wieder auf. Und so saß ich schließlich wieder eines Nachmittags auf dem Sofa in ihrer Wohnung. Inzwischen mit einem Kind. Dann mit zwei Kindern. Schließlich mit drei Kindern. Selten ganz allein. In jenem seltenen Fall fragte sie: „Du bist müde? Komm leg Dich hin, schlaf ein bisschen.“ Dann legte ich mich auf dem Sofa hin, sie brachte mir eine warme Decke und setzte sich wieder in ihren Sessel gegenüber von mir. Irgendwann schlief ich ein.

Dann kam ihre Familie häufiger zur Unterstützung im täglichen Leben. Irgendwann kam der Pflegedienst zweimal am Tag. Wir telefonierten ab und zu. Wenn ich kam, brachte ich den Kuchen mit. Doch dann bewirkte ein weiterer Sturz, einen vorübergehenden Aufenthalt in einer Pflegeeinrichtung an der Stadtgrenze. Und schließlich musste diese vorübergehende Pflegeeinrichtung für sie zu einem neuen Zuhause werden. Ein paar vertraute Möbel, Bilder und die hübsche, lebensgroße Deko – Gans zogen mit um. Es sah beinahe aus wie früher, in ihrer Wohnung. Nur telefonieren wurde schwieriger. Regelmäßig informierte mich eine Nichte über ihren Zustand. Ich begann Karten zu schreiben und brachte ihr bei meinem nächsten Besuch, ein papiernes Fisch – Mobilé aus Tokio mit, das in die Ecke gehängt wurde.

Am Ende des letzten Sommers erreichte mich erneut eine Notfallnachricht. Dieses Mal im heißen Salzburg. In meinem Koffer waren Sandalen und ein kurzes Glitzerkleid, von dem besuchten Festspielkonzert. Ich überlegte etwas und stieg schließlich anstatt in den Zug zurück nach Wien, in den Zug ins verregnete, kühle Hamburg. Für mich war klar: dies ist wohl das letzte Mal. Ich muss zu ihr.

Sie lag im Bett im Spital und war sehr schwach. Ein erneuter Sturz, ein erneuter Bruch, alles schmerzte. Wenig Personal auf der Station, eine Welt für sich. Statt einer Rose, brachte ich ihr eine Muschel aus Irland mit. Wir redeten nicht viel. Irgendwann organisierte ich ihr auf der Station eine Buttermilch. Wir stießen mit Pfefferminztee und Buttermilch an und lachten. Ich gab ihr die Medikamente, richtete sie im Bett auf und strich ihr über das lange, graue Haar. Es fühlte sich weich und sanft an. Ich saß an ihrem Bett und streichelte ihre dünnen Beine. Dann schloss ich die Augen und wurde still. Wir wurden still. Sie schlief ein und ich fuhr zurück in mein Hotel.

Ab dem Zeitpunkt gab es keine Telefonate mehr. Ich vermisste es ihre Stimme zu hören. Vermisste ihre Nähe. Aber es gab einen fluoreszierenden Stern an der Decke über meinem Bett in Wien. Den hatte sie mir vor vielen Jahren mit der Post geschickt. Er ließ mich jeden Abend vor dem Einschlafen an sie denken. Dann war sie ganz nah.

Einen weiteren Besuch gab es noch bei ihr. Im kalten Februar diesen Jahres. Ich wollte sie nochmal sehen und nahm die beiden Großen mit nach Hamburg. Sie sah alt aus. Und schön. Klare, blaue Augen wie immer. Ich sorgte für einen Moment zu zweit, schickte alle anderen nach draußen. Nur sie und ich. Ein letztes Mal? Sie schien wenig orientiert, fuhr mich barsch an. Ich verstand nicht und hielt inne. Dann legte ich meine Hand auf ihre Beine: „Komm‘, wir schweigen noch zusammen.“ Wir schlossen die Augen. Ich spürte die gewachsene Distanz zwischen uns. Sie schien sich zu entfernen. Und es war okay.

„Danke, dass ihr gekommen seid.“, sind ihre Worte an mich, als ich am Ende aus ihrem Zimmer hinausgehe. Unsere Blicke treffen sich noch ein Mal. Ich werfe ihr eine Kusshand zu. Und gehe.

Es war Liebe auf den letzten Blick.

P.S. Am Ostersonntag ist meine Patentante gestorben. Sie ist 89 Jahre alt geworden. Der Stern an meiner Decke leuchtet weiterhin jeden Abend auf.

Foto: Annie Spratt auf Unsplash

 

 

FÜR MICH DA – Lieblingssong Mai 2019